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Orthographische Aspekte der handschriftlichen Sprachproduktion von
Kindern
Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae (Dr. phil.)
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, Juli 2006
Veröffentlicht unter dem Titel: "Handschriftliche Sprachproduktion: Sprachstrukturelle und ontogenetische Aspekte" in der Reihe "Linguistische Arbeiten" im Max Niemeyer Verlag, Tübingen (2008).
Zusammenfassung
Ausgangspunkt dieser Arbeit waren Erkenntnisse aus der Schreibforschung, nach denen kompetente Schreiber Wörter nicht in einem stetigen Fluss erzeugen, sondern die Wörter in 'schreibgerechte Häppchen' zerlegen, die in der Regel Silben entsprechen. Aus dem Befund, dass eine solche Silbensegmentierung bei Schülern verschiedener Altersstufen noch nicht konsistent nachgewiesen werden konnte (Weingarten, 1998), entwickelte sich die Vorstellung, das der Erwerb der Silbensegmentierung einen wichtigen Anteil der Schriftspracherwerbs darstellt und erst mit zunehmender Kompetenz entsteht. Dieser Logik folgend wird die Silbensegmentierung hier als eine sich selbst organisierende Optimierung der Produktion gesehen, d.h. kurze Verzögerungen oder Pausen werden dort im Schreibfluss eingesetzt, wo dies aufgrund der ablaufenden sprachlichen Prozesse sinnvoll ist. Da einige Bereiche der deutschen Orthographie von der Silbenstruktur abhängig sind (z.B. Dehnung und Schärfung), liegt der Schluss nahe, dass eine hoher Aneignungsgrad der Silbensegmentierung die Produktion von Wörtern mit solchen Schwierigkeiten erleichtert und hier zu einer geringeren Fehlerzahl führt.
In der durchgeführten Handschriftuntersuchung konnten Spuren der Silbensegmentierung bei allen teilnehmenden Kindern einer fünften Klasse nachgewiesen werden. Zu Beginn der Wortschreibung zeigt sich an allen untersuchten Variablen (Reaktionszeit sowie Verzögerungen im Schriftzug und im Schreibfluss) sowohl ein Effekt der Silbenanzahl im Wort als auch der Länge des Silbenanfangsrandes. Innerhalb der Wörter traten erwartungsgemäß wie bei erwachsenen Schreibern die längsten Verzögerungen dort auf, wo Silben- und Morphemgrenzen zusammenfielen. Dieser Effekt trat bei allen Kindern an mindestens einer der untersuchten Variablen auf. Leider war die Fallzahl zu gering, um den Einfluss der Wortfrequenz zu prüfen.
Zum Vergleich der Verzögerungen an Silbengrenzen und solchen an 'normalen' Buchstabengrenzen wurde die Gruppe in gute und schwache Rechtschreiber geteilt. Die Teilung erfolgte am Median der Anzahl der Fehler mit Bezug zur Silbenstruktur (Dehnung und Schärfung). Um einen Einfluss möglicher Fehlerschwerpunkte (siehe unten) auszuschließen, wurden darüber hinaus nur die Fälle untersucht, an denen nicht mehr als zwei der 23 Kinder einen Fehler produziert hatten. Die Analyse ergab für die Variable 'Pausen innerhalb der Schriftzüge' signifikante Effekte sowohl für den Grenztyp (silbeninitial vs. silbenintern) als auch für die orthographische Kompetenz (gute vs. schwächere Rechtschreiber). Die Dauer der Abhebungen vor den Segmenten zeigte eine ähnliche, aber aufgrund der geringen Fallzahl nicht signifikante Tendenz. Es kann also festgehalten werden, dass für beide Gruppen Unterschiede zwischen den Verzögerungen an Silbengrenzen und silbeninternen Grenzen vorlagen, diese aber bei den besseren Rechtschreibern stärker ausgeprägt waren.
Um die Hypothese des Zusammenhangs zwischen der orthographischen Kompetenz und dem Aneignungsgrad der Silbensegmentierung auch im Einzelfall zu überprüfen, musste eine Methode entwickelt werden, die es erlaubte, den Aneignungsgrad für jedes Kind zu bestimmen. Hierzu wurden die vorhandenen Daten zu Luftsprungpausen, Schriftzugpausen und Unterbrechungen des Schreibflusses zunächst für jedes wortinterne Segment zu einem boolschen Wert komprimiert (wahr oder falsch), der bestimmte, ob hier eine Verzögerung vorlag oder nicht. Aufgeteilt in silbeninitiale und silbeninterne Segmente konnten aus den jeweiligen Häufigkeiten sogenannte Logits errechnet werden, die die relative (und logarithmierte) Chance des Auftretens einer Verzögerung an einer Silbengrenze für jedes Kind ausdrückten. Die berechneten Werte des so definierten Aneignungsgrads der Silbensegmentierung wurden anschließend mit individuellen Anzahl der Fehler mit Bezug zur Silbenstruktur korreliert. Das Ergebnis bestätigte die Hypothese, allerdings war die Ausprägung des Effektes wesentlich stärker, wenn nur die Anzahl der Fehler im Bereich der Schärfungsschreibung in Betracht gezogen wurde. Wenn die Analyse auf die Anzahl der Dehnungsfehler beschränkt war, zeigte sich nur noch ein schwacher Effekt. Möglicherweise müssen Herleitungen der Dehnungsgraphie von der Silbenstruktur im Lichte dieses Ergebnisses neu überdacht werden. Zumindest ergibt sich für Kinder, deren Aneignungsgrad silbischer Segmentierungen fortgeschritten ist, hierdurch kein Vorteil bei der Schreibung von Dehnungsgraphien, was dagegen für die Schärfungsschreibungen in erheblichem Maße der Fall ist.
Im Gegensatz zu den 'positiven' Verzögerungen an Silbengrenzen stellen Unterbrechungen des Schreibflusses an Fehlern oder Fehlerschwerpunkten einen eher unerwünschten Effekt dar. Unerwünscht insofern, als sie darauf hinweisen, dass die mentale Repräsentation des betroffenen Wortes oder der betroffenen Regel noch schwach ausgeprägt ist. Es konnte gezeigt werden, das sowohl tatsächlich produzierte Fehler als auch 'beinahe' produzierte Fehler an den Fehlerschwerpunkten zu Verzögerungen im Schreibfluss führen, was die Methode auch für die Diagnose von Rechtschreibproblemen interessant macht. Hierfür spricht auch der Befund, dass diese Verzögerungen in den meisten Fällen unmittelbar vor oder an der entsprechenden Position auftreten.
Unsicherheiten bezüglich der Schreibung eines Wortes können aber auch wortinitial auftreten. Dieser Effekt wird dem Zugriff auf das mentale Lexikon zugeschrieben, da er sich auf die wortinitiale Latenz beschränkt und sich nicht, wie z.B. die Länge des Silbenanfangsrandes, in Form von Verzögerungen im Schriftzug und im Schreibfluss äußert. Dies spricht dafür, dass die lexikalischen Prozesse zu Beginn der Schreibung abgeschlossen sind, die sublexikalischen silbischen Prozesse aber noch während der aktuellen Produktion ablaufen. Bei sehr unsicheren Rechtschreibern summieren sich die wortinitialen Verzögerungen stark auf, was an der starken Korrelation zwischen der initialen Latenz und der Fehlersumme deutlich wird.
In einem weiteren Experiment wurde die Hypothese geprüft, dass die Spanne des verbalen Arbeitsgedächtnisses mit der orthographischen Kompetenz korreliert. Mit Hilfe eines Reading Memory Span Tests, bei dem die Kinder die jeweils letzten Wörter einer Reihe von selbst vorgelesenen Sätzen erinnern sollten, konnten die Ergebnisse der Münchner Langzeitstudie (LOGIC, Schneider & Näslund, 1993, 1999) gestützt werden. Demnach sind die Prozesse des verbalen Arbeitsgedächtnisses ein starkes Vorhersagekriterium für die spätere Rechtschreibleistung. Entscheidend für diesen Effekt erscheint die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses für den Aufbau orthographischer Repräsentation zu sein, denn unabhängig von der verwendeten Strategie (lexikalisch durch Analogiebildung oder sublexikalisch durch die Phonem-Graphem-Konversion) müssen die Zwischenergebnisse der Prozesse in einem verbalen Speicher behalten werden.
Zuletzt wurden die Messungen der beiden Experimente miteinander in Bezug gesetzt. Eine signifikante Korrelation zwischen dem Aneignungsgrad der Silbensegmentierung und der Spanne des verbalen Arbeitsgedächtnisses (Erklärungsniveau: ca. 25%) bestätigte die zweite Hypothese des Reading Memory Span Tests. Ein Zusammenhang war aufgrund der Annahme vermutet worden, dass eine weitgehend automatisierte Silbensegmentierung durch die Zusammenfassung von Segmenten die Anforderungen an das verbale Arbeitsgedächtnis verringert. Im Sinne des Konzepts der begrenzten kognitiven Kapazität würde hierdurch die Verarbeitung der phonemischen Information und somit deren Qualität verbessert. Somit führt die Aneignung silbischer Verarbeitungsstrategien auf mehreren Ebenen zu einer Ökonomisierung der Prozesse der schriftlichen Sprachverarbeitung.
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